Leseprobe ›Die verbotene Seite‹ – Historischer Roman

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Ich wünsche euch eine schöne Lesezeit mit Marie.

Leseprobe:

Kapitel 1

Es war das Jahr 1887. Der alte Kaiser Wilhelm lebte immer noch. Der ebenfalls nicht mehr junge Kanzler Bismarck fädelte die Geschäfte ein, das Wilhelminische Reich wuchs und gedieh und die siebzehnjährige Marie triumphierte soeben über den Faden, der sich endlich durch die Öse der Nadel hatte quetschen lassen.
Die Sonne strahlte vom blauen Aprilhimmel und alles schien soweit in Ordnung zu sein, sowohl im prosperierenden Kaiserreich als auch in Maries bürgerlichem Leben. Nur unterschwellig war da so ein Gefühl, dass das Leben der jungen Frau sich ändern würde, ändern musste, damit sie nicht zwischen gestickten Deckchen und sonstigen Handarbeiten erstickte.
Die Schönheit des Tages fand dann an der Kaffeetafel ihr jähes Ende. Robert war schuld. Maries fünfzehnjähriger Bruder war eigentlich immer schuld und dann drehte er die Dinge so, dass letztendlich Marie bestraft wurde.
Er liebte Detektivromane. Einen besaß er, der handelte von einem Mann namens Sherlock Holmes, und Robert bildete sich ein, nun selbst ein besonderer Detektiv zu sein. Er verfüge über die Gabe der ›Deduktion‹, so behauptete er. Marie hatte keinen blassen Schimmer, was ihr Bruder damit ausdrücken wollte – und sie vermutete, dass er das selbst nicht wusste. Doch sie sah, dass neuerdings jeder Schuh, der nicht korrekt geordnet in Maries Schuhschrank stand, genauestens untersucht wurde. Die junge Frau empörten nicht nur Roberts Schlussfolgerungen bezüglich der Schuhlinie, sondern vor allen Dingen, dass er es wagte, in ihren Schuhschrank zu schauen. Doch auch bei Tisch stand sie ständig unter Beobachtung. Jedes unterdrückte Gähnen wurde analytisch festgehalten und untersucht. Meist mit dem Ergebnis, dass Marie beim Versuch, den Bruder in die Schranken zu weisen, den Zorn ihrer Mutter auf sich zog. Ebenso verhielt es sich an diesem Nachmittag.
Wie immer saß Robert vorgebeugt auf seinem Stuhl und spielte mit der Kuchengabel herum. Mutter saß kerzengrade neben Marie und zuckte nur leicht mit dem Mundwinkel, als das Dienstmädchen Frida jetzt die gefüllte Kaffeetasse samt Untertasse neben Wilmas Teller platzierte und dabei den Kaffee in leichte Schwingungen versetzte. Frida blieb einen Moment mit angehaltenem Atem neben der Hausherrin stehen. Der Kaffee beruhigte sich, Frida atmete aus und ging mit der Kaffeekanne zu Anton Fuchs hinüber. Maries Vater, von seiner Tochter stets liebevoll ›Paps‹ genannt, griff bereits nach dem ersten Stück vom ›Ribbelkuche‹. Die Kaffeetafel war eröffnet und die Hände von Robert fuhren nach vorne und ergriffen ebenfalls eins der Streuselkuchenstücke.
Marie und Wilma warteten, bis Frida ihnen das Gebäck auf den Teller reichte.
Opa Oskar, der an der langen Seite neben Robert saß, schob bereits die letzten Krümel unter den Tisch, wo Hündin Patrizia sie normalerweise fleißig aufsammelte. Nur war Mutters Schoßhündin diesmal nicht zur Stelle. Sie lungerte aus irgendeinem Grund neben Maries Stuhl herum.
Opa bekam das aber nicht so genau mit. Denn Opa sah nicht mehr gut, war fast blind, wie er behauptete, was ihn aber nicht davon abhielt, ihnen zu beinahe jeder Mahlzeit etwas aus der Zeitung vorzulesen. Mit Lupe zwar und mit der Nase fast zwischen den Buchstaben und manchmal verrutschte er in der Zeile, doch insbesondere die Überschriften brachte er geordnet und wohlakzentuiert hervor.
So begann er jetzt, ihnen von einem Einbruch in der Apotheke am Römerberg vorzulesen, bei dem neben dem Griff in die Kasse auch noch Fässer mit Äther gestohlen worden seien.
»Fässer?« Paps runzelte die Stirn und legte seine Pfeife auf den Tisch, die er gleich zu rauchen gedachte.
»Diebstahl?«, freute sich Robert, sprang vom Tisch auf und stieß gegen seine Tasse, die sich daraufhin auf der Untertasse wälzte.
Gleichzeitig ließ das Dienstmädchen die Tasse und Untertasse von Anton Fuchs fallen. »Verzeihung!« Sie schlug die Hände entsetzt vor den Mund und bückte sich schnell.
»Robert!«, funkelte Marie ihren Bruder an, der bereits neben Opa Oskar stand und die ›Fässer‹ in ›Fläschchen‹ korrigierte.
Marie beugte sich vor und half Frida, die Scherben einzusammeln. Das Dienstmädchen war bleich geworden. Mit zitternden Fingern hielt sie die Reste der Tasse in der Hand.
»Ist nicht deine Schuld«, versuchte Marie sie zu beruhigen.
Frida nickte und Marie wurde von Wilma Fuchs zurechtgewiesen, sich ordentlich an den Tisch zu setzen. Schnell richtete Marie sich wieder auf, drückte ihren Rücken durch und legte die Hände auf den Tisch. Auch Robert setzte sich wieder und Marie warf ihm einen ausdrucksvollen Blick zu, den er von ihr aus ruhig detektivisch oder deduktiv oder wie auch immer interpretieren durfte.
»Opa«, rief Robert jetzt, denn um mit Opa zu sprechen, musste man seine Stimme schon ein wenig erheben. »Da müssen wir nachher mal hin. Vielleicht finden wir noch ein paar Spuren.«
Und während Frida abermals ein paar Scherben zu Boden glitten und einen nicht wohlwollenden Blick der Hausherrin erntete, grinste Opa und antwortete ebenso laut: »Jau, mein Junge, das machen wir.«
Opa gab zwar nie zu, dass er nicht mehr gut hörte, aber für alle anderen war das eine Tatsache. Wer abgesehen von lauten Antworten, andauernd bei den Worten »Reichst du mir die Butter« »Reife gut mit Luther« verstand, und auch ansonsten gerne mit einem »Hä?« nach Wiederholung des Gesagten verlangte, mit dessen Ohren konnte etwas nicht ganz stimmen.
Marie schüttelte unmerklich den Kopf, ein leichtes Grinsen zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. Opa. Der mit dem Unfug im Kopf, sagte Maries Freundin Sophie gerne. Mutter war stets empört, doch bei Papa besaß Opa so etwas wie Narrenfreiheit. »Lass ihn mal«, pflegte er zu sagen. Und: »Hauptsache, er hat noch Spaß und genießt seine letzten Jahre.«
Frida hatte soeben die Kaffee- mit der Teekanne getauscht und stellte für den jungen Herrn die Teetasse auf den Tisch. Robert ergriff das heiße Getränk und verschluckte sich daran. Ruckartig beugte er sich vor und gab röchelnde Laute von sich. Zum Schutz von Teller und Tischdecke hielt er die Hand vor den Mund. Der Tee fand dennoch seinen Weg auf das Stickwerk, das Mutter erst diese Woche in unendlich lang andauernder Handarbeit fertiggestellt hatte.
Wilma sprang auf. Maries Rücken wurde noch gerader, Anton Fuchs zog die Augenbrauen hoch und Opa griff nach einem weiteren ›Ribbelkuche‹.
»Robert!« Wilma wedelte hektisch mit den Armen. »Frida, Tuch und Gallseife, aber schnell!«
Frida rannte los.
Doch was dann folgte, war schlimmer und ließ die paar Tröpfchen, die die Tischdecke zierten, vergessen. Marie, gerade damit beschäftigt, voller Schadenfreude ein angemessen entsetztes Gesicht zu ziehen, stieß mit einer ruckartigen Bewegung gegen ihre eigene, mit demselben heißen Zeug gefüllte Tasse. Die Tasse schleuderte schwungvoll bis zum Tischrand, schoss über diesen hinaus und ergoss ihren Inhalt Richtung Boden. Zwar fingen Maries flinke Finger die Tasse noch auf, doch das neben ihrem Stuhl quietschende Bündel zeugte davon, dass dem Inhalt der Tasse ein Volltreffer auf Mutters Malteser-Schoßhund gelungen war.
Patrizia raste quer durch den Salon. Sie verlieh ihrem Schmerz eine klare, hohe Stimme. Mutter und Frida, mit Lappen und Gallseife bewaffnet, folgten ihr. Marie war unfähig, etwas zu tun. Wie versteinert starrte sie den rasenden Dreien hinterher. Auch Robert saß auf seinem Stuhl und spendete einen staunenden Blick. Opa Oskar hingegen runzelte die Stirn und sagte: »Da quietscht etwas.« Sein Blick schweifte suchend umher. »Hört ihr das denn gar nicht?«
Und während Opa noch fragte, ob nicht jemand mal das Quietschen abstellen könne, handelte Anton Fuchs. Im passenden Moment schnellte seine Hand neben seinem Stuhl nach unten und umfasste Patrizia mit festem Griff. Er übergab das jaulende Tier Frida mit der Aufforderung, dem Hund ein kühlendes Bad zu verschaffen.
Frida nickte und eilte davon. Wilma Fuchs folgte ihr.
Marie spürte nun den Blick ihres Vaters auf sich ruhen.
Und Opa freute sich. »Jetzt hat’s aufgehört«, sagte er.
»In dein Zimmer.« Anton Fuchs nickte kurz Richtung Treppenhaus. »Für den Rest des Tages.«
Marie schluckte, stand auf und eilte die Treppe hinauf.
Opa Oskar schaute von Anton zu Robert. »Wo sind denn die Weibsbilder alle hin?«, fragte er.
»Weg«, meinte Anton.
Opa Oskar schüttelte den Kopf. »Typisch«, ließ er verlauten. »Kaum hat man sie, sind sie auch schon wieder weg.«
Anton unterließ es, zu fragen, ob sein Vater damit die diversen Liebschaften meinte, die er damals nach Mutters Tod ins Haus geschleppt hatte. Er stand auf, ging in die Eingangshalle, nahm Jacke und Hut und verließ das Haus durch den Vordereingang. Er hatte genug Sorgen in seiner Firma. Insbesondere, was die Arbeitsmoral seiner Arbeiter anging. Und dann war da noch sein Buchhalter Bechtoldt, der ihm mit der etwas kreativen Buchführung Kopfschmerzen bereitete. Doch am allerschlimmsten war sein Aufseher Janssen. Wenn er nur wüsste, wie er den ein für alle Mal loswerden könnte.
Tief in seine Gedanken versunken eilte der Fünfzigjährige den Kettenhofweg entlang. Zwei Querstraßen weiter wartete sein Kutscher Josef mit dem Landauer. Der Fabrikant Anton Fuchs stieg ein und wies Josef an, ihn zum Büro zu fahren. Bis zum Mathildenviertel in Offenbach hatte er noch eine halbe Stunde Zeit, darüber nachzudenken, wie er seine Bilanz in Ordnung brachte.
*
Marie saß auf ihrem Stuhl, die Stickarbeit lag auf ihrem Schoß. Missmutig hatte sie eben die Schere zur Hand genommen und die verhedderten Fäden durchgeschnitten. Jetzt sah das Deckchen nackt aus und durchlöchert. Eigentlich hatte Frida ihr helfen wollen, aber Frida hatte sich nach dem Kaffee wohl nicht mehr zu ihr ins Zimmer getraut. Stubenarrest hieß Stubenarrest und nicht ›nettes Plauderstündchen mit dem Personal‹. Marie seufzte. Frida hätte die Stickarbeit retten können. Jetzt musste sie wieder von vorne anfangen. Frida war wirklich eine Seele von Mensch. Marie war froh, dass sie sie hatten, auch wenn ihre Sprache manchmal etwas holprig war. Die beste Schulbildung hatte sie wohl nicht genossen und Maries Mutter hatte sich bereits ein paar Mal dahingehend geäußert, dass mit dem Gesindebuch des Fräulein Stern etwas nicht stimmen könne. So viel Schulbildung, wie darin vermerkt war, konnte sie bei diesem Kind einfach nicht feststellen. Aber Frida war zuverlässig, hilfsbereit und freundlich. Und sie war bereits seit einem halben Jahr bei ihnen in Stellung. Das ließ Marie hoffen, dass sie auch noch länger blieb.
Marie ermahnte sich, konzentriert weiterzuarbeiten und nicht so sehr zu grübeln, denn wenn sie nicht bald ein fertiges Deckchen vorführen konnte, würde sie bei Mutter weiter in Ungnade fallen. Und wenn Mutter nicht guter Stimmung war und das an Paps ausließe, würde der vielleicht noch seine Befürwortung für das Lehrerinnenseminar rückgängig machen. Die Konsequenz wäre, dass sie weiter einfach hier rumsäße und Deckchen bestickte. Oder Mutter verhökerte sie an den nächstbesten Kandidaten. Mutter hatte bereits ein paar Mal Andeutungen gemacht, dass der Sohn der Farbwerke eine aparte Partie wäre. Marie bekam Gänsehaut, wenn sie sich das vorstellte. Das durfte auf keinen Fall geschehen.
Marie stach die Nadel durch den Stoff. »Au! Wullewatz!« Sie lutschte an ihrer Fingerkuppe, an der sich eine kleine Stelle rot färbte. Den ›Wullewatz‹ hatte sie von Opa übernommen. Eigentlich bezeichnete der Begriff ein dickes Kind. Und da Marie damals ein kleiner Wonneproppen gewesen war und Opa sich viel Zeit für sie genommen hatte, war es schließlich das erste Wort gewesen, das ihre Lippen verlassen hatte. Opa hatte sich wie Hulle gefreut, ihre Eltern weniger. Manchmal setzten Opa und sie auch noch ein ›Heiliger‹ davor. Gemeint war dann Jesus Christus. Die Idee war ihnen während eines Kirchgangs gekommen. Als sie mal wieder die vielen Bilder in der Katharinenkirche geschaut hatten, anstatt der Predigt zu lauschen.
Die Abendsonne strahlte durch das Fenster. Staubkörnchen tanzten vor ihrem Schoß im Sonnenlicht. Ihr Blick wanderte zu dem Bild des niederländischen Malers van Gogh. Ihr Vater hatte das Bild kürzlich während einer Geschäftsreise nach Paris erstanden. Marie legte die Handarbeit zur Seite, stand auf und ging zu dem Bild. Sie liebte es. Die Farben, das wunderschöne nächtliche Blau, gepaart mit dem leuchtenden Gelb. Für Marie besaß es so viel Sehnsucht wie sie in ihrem Herzen spürte. Sie strich über die helle Terrasse auf dem Bild. ›Terrasse du café le soir‹ stand darunter. Das wäre was: spätabends durch die Straßen wandeln und sich in ein Café setzen. Und es genießen. Das Leben.
Auf Maries Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab. Sie würde es nie wagen, aber die Vorstellung war schön. Nachts, allein. Nur sie und das Leben, unterwegs.
Vincent van Gogh. Selbst der Name klang wie Musik.
Kinderstimmen ließen Maries Blick zum Fenster wandern. Sie seufzte. Sie hörten sich so unbeschwert an. War es die Stimme vom Fritz gewesen? Marie schlich zum Fenster. Hinter der seitlichen Gardine blieb sie stehen. Ein wenig zog sie den Vorhang zur Seite und schaute hinaus. Sie kniff die Augen zusammen, um gegen das Sonnenlicht das bunte Treiben auf der Straße vor dem Haus beobachten zu können. Ihr Zimmer befand sich im ersten Stock und von ihrem Fenster aus schaute sie direkt auf die herrlich hell blühende Krone des Kirschbaumes, den ihr Vater zu ihrer Geburt hatte im Vorgarten einpflanzen lassen. Die rosig-zarten Blüten wogen leicht hin und her im milden Frühlingswind. Draußen auf der Straße vor dem Haus spielten der Nachbarsjunge Fritz und sein Freund mit Kieselsteinen und Stöckchen. Sie spielten dieses Spiel ›Ich erkläre den Kriegen gegen …‹ Marie kannte es, weil Robert es früher so oft gespielt hatte. Und jedes Mal hatte er sich mit seinen Freunden darüber gestritten, wer denn dieses Mal das Deutsche Kaiserreich vertreten durfte. Frankreich wollte nie jemand sein. Großbritannien und Russland gingen noch. Marie fand das Spiel doof. Aber sie durfte ja auch nicht mitspielen. Kriegsspiele waren nichts für Mädchen. Genauso wenig wie die Sammlung von Zinnsoldaten, die das Spielzimmer von Robert bevölkert hatte.
Tief in Gedanken versunken hatte Marie dem Spiel der Jungen zugeschaut. Doch dann bemerkte sie den Blick von Fritz. Ihr war, als schaute er direkt zu ihr hoch. Schnell wich sie einen Schritt zurück und ließ die Gardine, die sie eben ein wenig zur Seite geschoben hatte, aus ihren Fingern gleiten. Sie schimpfte sich selbst eine Idiotin und trat wieder näher an das Fenster heran. Sollten sie sie doch ruhig sehen. Sie tat nichts Verbotenes. Trotzdem spürte sie, wie ihr Herz gegen ihre Brust schlug. Sie fühlte sich ertappt. Ertappt dabei, wie sie neidvoll auf die blickte, die etwas anderes tun durften als Handarbeiten. Die das Leben genießen durften, die in der Sonne spielten. Und sie fragte sich, warum das Leben so ungerecht war und sie hier einsperrte.
Sie wollte sich gerade zurückziehen, als sie die Stimme von Opa Oskar ausmachte. Manche Wörter sollten besser leise gesagt werden oder gar nicht. Doch Opas Stimme drang wie immer kräftig durch die Straße.
»Mein Hintern! Au! Der Schinken hüpft!«, rief er. »Wir brauchen eine Polsterung!«
Marie riss die Gardine Seite. Unten auf der Straße erblickte sie Opa und Robert. Der Fünfzehnjährige saß auf seinem »Niederrad«, wie er das komische Gefährt nannte, denn es war niedrig wie eine Laufmaschine. Und doch hatte es Pedalen wie ein Hochrad. Und Opa – Marie traute ihren Augen kaum – saß mit drauf. Dahinter. Also, hinter Robert, der sich abmühte und kraftvoll in die Pedalen trat, während Opa auf einem alten Stuhl saß und im Takte der unebenen Straße auf und ab hüpfte. Marie runzelte die Stirn. Wie hatten sie den Stuhl denn da gefestigt? Sie schirmte ihre Augen mit der Hand ab, um gegen die Sonne besser sehen zu können. Irgendwie hatten sie den Stuhl an das Gestell, das die beiden Räder miteinander verband, montiert. Dieses Sicherheitsniederrad, das Opa Robert geschenkt hatte, war ihr tägliches Versuchsobjekt. Wenn Robert nicht gerade in Detektivarbeiten verstrickt war, bastelten die beiden an dem Gefährt herum. Sie sprachen über Vulkanisieren und Luftreifen, Gummi und Kautschuk. So viele Dinge, von denen Marie nichts verstand und die sie auch nicht sonderlich interessierten. Über einen Stuhl hatten sie noch nie gesprochen.
So wie Opa sich an Robert klammerte, sah er fast aus wie ein Ringer, der den anderen zu Fall bringen möchte. Marie schüttelte den Kopf und musste grinsen. Doch im nächsten Moment schlug sie die Hände vor den Mund. Eine besonders starke Unebenheit hatte Opa etwas heftiger auf dem Holzstuhl landen lassen. Die Konstruktion gab nach und mit einem Krachen brach der Stuhl ab – und mit ihm Opa, der wiederum Robert mit hinabriss.
»Ach du Schreck«, rief Marie, sie raffte ihr Kleid und rannte aus dem Zimmer, die Treppe hinab und zur Haustür hinaus. Dass Patrizia mit raushuschte, nahm sie gar nicht wahr.
»Opa!«, rief sie und war auch schon bei der Gartenpforte. Sie zog sie auf und rannte die Straße entlang.
Robert war gerade dabei, dem alten Herrn wieder auf die Beine zu helfen.
»Opa! Ist dir was passiert?« Keuchend kam Marie neben Opa, der jetzt zum Glück wieder auf zwei Beinen stand, zum Stehen. Erstaunt drehte er sich zu Marie um.
»Oh! Was machst du denn hier?« Er rieb sich den Hintern. »Etwas hart, der Sitz«, sagte er, »etwas hart.«
»Opa.« Marie zupfte an seinem Ärmel. »Ist dir auch nichts passiert?«
»Nein, mein Meedsche.« Er strich Marie übers Haar. »Unkraut vergeht nicht.« Er lächelte. Doch es sah etwas gequält aus. Marie war überzeugt, dass ihm sämtliche Knochen wehtaten. Das aber zuzugeben, das war nicht Opas Art. Er lamentierte zwar gerne bei kleinen Wehwehchen, aber sobald er fürchtete, jemand mache sich Sorgen, spielte er alles herunter.
Opa und Robert schoben das Rad zurück. Marie schaute ihnen hinterher. Eigentlich müsste sie jetzt mitgehen, sich wieder in ihr Zimmer begeben. Doch die Sonne strahlte sie an, wärmte ihre Haut, ihr Gesicht. Sie zögerte. Dann schaute sie neben sich. Zwei Hundeaugen blickten sie treuherzig an.
»Patty.« Marie bückte sich und streichelte den Hund. Dabei entdeckte sie seitlich unter dem Hundefell die rot gefärbte Haut. »Oh, Patty, das tut mir so leid. Hast du noch Schmerzen? Warum musstest du auch neben meinem Stuhl stehen?«
Die Hundeaugen schauten sie weiterhin an.
»Jetzt mach mir nicht so ein schlechtes Gewissen. Du bist doch sonst nicht so ruhig. Muss ich mir Sorgen machen?« Marie richtete sich wieder auf und seufzte. Als sie das nächste Mal neben sich schaute, war da kein Hund mehr.
*
Zur gleichen Zeit schlich eine Gestalt seitlich am Haus entlang. Sie wartete, bis Marie sich auf der Suche nach dem Hund ein paar Meter entfernt hatte, dann eilte sie zur Pforte und entschwand in die entgegengesetzte Richtung. Unter ihrem Arm klemmte die Ausgabe der heutigen Zeitung. Sie musste unbedingt zu ihm. Große Teile des Weges rannte sie.
Sie rannte zur Börnestraße. Die Straße, die bis vor zwei Jahren noch nach denen benannt worden war, die hier gelebt hatten, nur hier hatten leben dürfen: Die Judengasse. In dem kleinen Areal von dreihundertdreißig Metern von Nord nach Süd und von fünfundvierzig bis fünfzig Metern von West nach Ost hatte man sie eingepfercht, umgeben von einer Mauer, die nur an drei Stellen einen Durchlass hatte: Im Norden, im Westen und im Süden. Auslass hatte es nur tagsüber und nur an Werktagen gegeben. Es begann 1460. Nun ja, das war jetzt schon etwas länger her und sie hatten sich nach dem von französischen Truppen verursachten Brand von 1796 auch nicht mehr alle dort einsperren lassen. Und ab 1824 erhielten sie spätestens die offizielle Erlaubnis, sich außerhalb der Judengasse niederzulassen. Aber diese ehemalige Begrenzung hatte dazu geführt, dass die Gasse in dieser Art gewachsen war. Es gab Häuser über Häuser, eng an eng, direkt aneinandergeklebt wie Kekse in der Schachtel. Kein Gang passte dazwischen. Dabei waren viele von ihnen noch mit Hinterhäusern versehen. Seit längerem bereits wurden sie nach und nach von der Stadt aufgekauft und abgerissen. Im Norden war die Geschichte der Judengasse kaum noch zu erahnen, doch im südlichen Teil standen sie noch, die mehrfach geteilten hohen Häuser mit ihren auffälligen Gesimsen. Sie glichen eher verfallenen, aufeinander gestapelten Hütten denn bewohnbaren Häusern.
Eines dieser Behausungen war Fridas Ziel. Es stand zwischen den Gebäuden Einhorn und Silberne Krone und es hatte ebenso wie sie keine Hausnummer, sondern einen Namen. Es hieß Hufeisen und hatte im Gegensatz zu jenen mit ihren über vier Metern Breite eine etwas kürzere Frontseite. Mit seinen ein Meter siebzig zählte es zu den schmalsten Häusern dort. Und – wieder im Gegensatz zu seinen direkten Nachbarn – zu den ärmsten. Während aber seine Nachbarn auch eher dem Handel mit Juwelen und Munitionen fürs Kaiserreich zugetan waren, begnügte sich die Familie Lechnech, die das ›Hufeisen‹ bewohnte, eher mit dem Handel von Altkleidern. Frida stand nun vor der schmalen Eingangstür und musste dringend mit dem Sohn der Familie, mit Benjamin, sprechen. Sie atmete einmal tief durch und klopfte an die absplitternde Holztür.
»Ist offen«, brummte eine Stimme von drinnen. »Als wenn diese Rumpelkammer ein Schloss hätte.« Schlurfende Schritte näherten sich der Tür. Unter Ächzen gab das Holz nach und ließ sich aufziehen.
»Ich muss dringend mit Benjamin sprechen.« Frida stürmte an dem alten Mann, der ihr die Tür geöffnet hatte, vorbei in das schmale Zimmer. Acht Augenpaare starrten sie an. Keins davon gehörte zu Benjamin. »Wo ist er?« Frida drehte sich und ließ ihren Blick über die Kinder, die Frau, den Tisch und das Bett, die Regale und die Schüsseln und Teller hinweggleiten. Im Hintergrund war die schmale Holztreppe, die ins nächste Stockwerk führte.
»Wer?«
Sie schaute den alten Lechnech an. »Na, Benjamin.«
Der Mann zuckte mit den Schultern.
»Ist vorhin rausgegangen«, sagte Frau Lechnech und nickte zur Tür. »Die Straße runter.«
»Danke.« Frida drehte sich um und lief hinaus. Sie schirmte ihre Augen gegen die Sonne ab. Von Benjamin keine Spur. Ach du schöner Appelfratz! Was sollte sie machen?
Schnell lief sie ein paar Häuser weiter, bog in eine enge Seitengasse und rannte bis zum letzten Hinterhaus. Es war die ›Löwengrube‹ und es hatte dieselbe Frontseitenlänge wie das ›Hufeisen‹. Vielleicht war es diese Gemeinsamkeit, die Frida und Ben seit Kindheitstagen zusammenschweißte. Denn hier war ihr Elternhaus. Ihr Vater war vor einigen Jahren gestorben. Doch ihre Mutter lebte hier zusammen mit ihrem Bruder und dessen Familie. Insgesamt waren sie zu acht.
Sie öffnete die Tür zu dem Kabuff, der einst auch ihr Zuhause gewesen war.
Die Mutter lag auf dem Sofa. Frida eilte zu ihr.
»Mama.« Sie streichelte ihren Arm. »Mama, wie geht es dir?«
»Frida, mein Mädchen.« Die Mutter lächelte und richtete sich auf. Es bereitete ihr Mühe. Frida sah es wohl. »Gut«, sagte sie. »Gut.« Dann hustete sie.
»Es geht dir wieder schlechter«, sagte Frida. »Du brauchst Medizin. Wenn der Benjamin endlich damit überkäme.«
»Nein, nein, meine Kleine.« Die Mutter lächelte und tätschelte Fridas Hand. »Du kannst dich doch nicht meinetwegen in so große Kosten stürzen.« Sie hustete erneut.
»Doch, Mama. Das ist kein Problem. Mach dir keine Sorgen. Der Benjamin hilft mir.«
»Der Benjamin ist ein Verbrecher. Kind. Vergiss das nicht. Lass dich nicht auf ihn ein.«
»Nein, Mama. Es wird alles wieder gut. Ich muss zu ihm.« Frida drehte sich weg und eilte aus dem Haus. Draußen wischte sie sich die Tränen von der Wange. Sie brauchte die Medizin. Dringend! Er hatte es ihr versprochen. Der Diebstahl füllte schon die Zeilen der Zeitung, doch von der Medizin war weit und breit keine Spur. Wenn er nicht jetzt gleich damit überkäme, würde er aber was erleben. Dieser Appelfratz! Sie ballte die Fäuste und eilte zurück zu Bens Behausung.
Sie sah ihn schon von weitem. Er wollte gerade ins Haus eintreten.
»Benjamin!«, rief sie und begann zu rennen. Als sie ihn erreicht hatte, knallte sie ihm die Zeitung vor die Brust. »Guck dir das an!«, fuhr sie ihn an und zeigte auf den Artikel. »Und wo ist die Medizin?«
»Hey«, lachte Ben, »sachte, sachte.« Er schob Frida über das Kopfsteinpflaster am Haus ›Einhorn‹ und an der Gasse ›Hinter dem kalten Bad‹ vorbei bis zur Synagoge. Dort eilte er die vier Stufen hoch, öffnete das seitliche Tor mit den geraden Eisenstäben und schloss es hinter Frida wieder. Dann lehnte er sich an die graue Mauer und umfasste Fridas Oberarme. »Du kriegst deine Medizin ja. Gut Ding braucht Weile.«
»Wann?«
»Morgen. Ich bring sie dir sogar. Lieferservice.« Er grinste.
Frida atmete durch. »Dann drück die Daumen, dass es nicht zu spät ist, sonst kannst du was erleben!« Sie hob die Faust.
»Nun beruhig dich mal.« Ben schob die Faust beiseite, zog eine Zigarette aus seiner Jackentasche und zündete sie mit einem Streichholz an.
»Und hier.« Frida schlug ihm erneut die Zeitung vor die Brust und deutete auf den Zeitungsartikel. »Das haben wir dir zu verdanken. Die drei kleinen Fläschchen hätte keiner bemerkt. Aber du musstest deine Finger ja unbedingt auch noch in die Kasse stecken!«
»Das war Anschauungsunterricht für dich zum Lernen.« Benjamin ließ kleine Rauchwolken in den Himmel steigen und schaute ihnen gebannt hinterher. Fridas Mund stand offen. Sie lehnte sich neben Ben gegen die Mauer.
»Nicht dein Ernst«, sagte sie.
Im nächsten Moment tanzte Bens Gesicht vor ihrem. Sein rechter Unterarm stütze sich neben ihrem Kopf an der Wand ab. Seitlich in seinem Mund hing die Zigarette. »Das nächste Mal, meine Kleine, …« Er klopfte mit dem Zeigefinger seiner linken Hand auf ihr Schlüsselbein. »… Das nächste Mal bist du dran. Oder glaubst du, dass unser Mediziner das Mittel aus reiner Nächstenliebe zusammenbraut?«
Frida erwiderte nichts.
Ben kramte in seiner Hosentasche herum. »Hier«, sagte er, »ist für dich.« Er legte ihr etwas Metallisches in die Hand und schloss ihre Finger darüber. Dann stieß er sich von der Mauer ab und ging zwei Schritte rückwärts auf die Eingangspforte zu.
Frida öffnete ihre Faust und schaute auf einen großen, verbogenen und teilweise plattgeklopften Nagel.
»Oh nein«, sagte sie. »Den werde ich nicht gebrauchen.« Sie wollte ihn ihm wiedergeben, doch er wehrte ab.
»Behalte ihn«, sagte er. »Ist ein Geschenk.« Er grinste. »Wir sehen uns morgen«, sagte er, öffnete das Tor und verschwand.
Fridas Hände zitterten, als sie den Dietrich mit ihren Fingern umschloss.